Hans Prinzhorn
Die Heidelberger Sammlung ist benannt nach dem Kunsthistoriker und Arzt Hans Prinzhorn (Hemer i. Westf. 1886 - 1933 München), der 1919 als Assistent an die Psychiatrische Klinik der Universität Heidelberg kam. Deren Leiter Karl Wilmanns hatte ihn beauftragt, eine bereits bestehende kleine Kollektion künstlerischer Arbeiten von Psychiatriepatienten mit Werken aus anderen psychiatrischen Anstalten zu erweitern und in einer wissenschaftlichen Studie auszuwerten. So entstand Prinzhorns Buch »Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung« (1922), welches dieses Gebiet erstmals einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machte, gerade auch mit Hilfe einer üppigen Bebilderung.
Sammlungen wie diejenige, die Prinzhorn in Heidelberg vorfand, gab es damals auch in anderen psychiatrischen Kliniken Europas. Sie waren Teil der Archive dieser Häuser, und die hier verwahrten Artefakte wurden ausschließlich unter diagnostischen Gesichtspunkten betrachtet. Prinzhorns Unternehmen ist denn auch fast ohne Vorläufer. Immerhin hatte der französische Psychiater Paul Meunier (1873-1957) bereits 1907 Werke von Psychiatriepatienten unter ästhetischen Gesichtspunkten gewürdigt, in seinem Buch »L’art chez les fous«, das unter dem Pseudonym Marcel Réja erschienen war. Dieser Ansatz ist damals jedoch kaum beachtet worden. Mehr Aufmerksamkeit dagegen erregte die Studie »Ein Geisteskranker als Künstler« des Schweizer Psychiaters Walter Morgenthaler von 1921, in welcher der in der Waldau, der psychiatrischen Klinik Berns, lebende Adolf Wölfli vorgestellt wurde.
Prinzhorns Blickwinkel war jedoch weiter als der Meuniers und Morgenthalers. Er konnte sich auf ein wesentlich umfangreicheres Material stützen, berücksichtigte beeindruckend viele Aspekte des Gebietes und gelangte zu Fragestellungen, die auch heute noch die Forschung beschäftigen. Hierin schlägt sich vor allem auch die doppelte Promotion als Philosoph (1909) und als Mediziner (1919) nieder. Darüber hinaus verfügte Prinzhorn als ausgebildeter Sänger, der zudem selbst zeichnete und handwerkliches Geschick besaß, über eigene Erfahrungen mit künstlerischer Gestaltung. Sein Interesse an Werken von Psychiatriepatienten lässt sich wie seine Analysemethoden zurückverfolgen auf psychologisch orientierte Strömungen in der Kunstwissenschaft und Philosophie, denen er während seines Studiums in Tübingen, Leipzig und München zwischen 1904 und 1909 begegnet war (insbesondere bei August Schmarsow und Theodor Lipps).
In seinem Buch entwickelt Prinzhorn zunächst eine Ausdruckstheorie der Gestaltung. Mit Hilfe eines komplexen Modells verschiedener Partialtriebe versucht er, das Phänomen »Bildnerei« (den wertenden Begriff »Kunst« vermeidet er absichtlich) gestaltungspsychologisch zu erklären. Im zweiten Teil des Buches geht er dann auf die Bildwerke schizophrener Patienten ein und widmet zehn dieser künstlerisch Tätigen Einzeldarstellungen. Dabei werden zwar auch Einblicke in die jeweilige Lebensgeschichte und Persönlichkeit gegeben, die Analyse der Werke mit Hilfe von Einfühlung (Prinzhorn spricht auch von »Wesensschau«) steht jedoch deutlich im Vordergrund. Im dritten Teil werden diagnostische Fragen und Parallelen zu anderen Formen künstlerischer Gestaltung behandelt. Hier zieht Prinzhorn nicht nur die Kunst der so genannten Primitiven und Kinderzeichnungen zum Vergleich heran, sondern auch Gegenwartskunst. Die Ähnlichkeiten zu Patientenarbeiten in letzterer erklärt er mit einem »schizophrenen Weltgefühl« seiner Zeitgenossen, das für ihn wesentlich einem auch für die psychisch Kranken konstatierten »ambivalenten Verweilen auf dem Spannungszustand vor Entscheidungen« entspricht. Das vergleichbare Streben führe im Künstlerischen allerdings nicht zum gleichen Erfolg, da das spontane Schöpfen aus dem Unbewussten bei den Gesunden weitgehend fehle. So stellt Prinzhorn den »echten« Arbeiten der Schizophrenen die »rationalen Ersatzkonstruktionen« der Hochkünstler seiner Zeit entgegen und formuliert damit eine eigenwillig radikale Kulturkritik, die der eigentliche Antrieb für das Buch gewesen zu sein scheint. Seine eigene Position aber ist bereits mit der von Jean Dubuffet vergleichbar, der sich später als »Entdecker von Entdeckungen« bezeichnet hat.
Bis zu seinem Tod hat sich Prinzhorn in Vorträgen und Aufsätzen immer wieder zum Thema seines ersten Buches zu Wort gemeldet, ohne jedoch über die dort aufgestellten Thesen wesentlich hinauszugehen. Auch der Versuch, mit der Übertragung seiner Thesen auf ein verwandtes Gebiet an den Erfolg seiner »Bildnerei der Geisteskranken« anzuschließen (»Bildnerei der Gefangenen«, 1926), scheiterte. Das Schwergewicht seiner zahlreichen Publikationen lag auf dem Gebiet der Psychotherapie, wobei sein origineller Ansatz die Philosophie von Ludwig Klages mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds zu verknüpfen versuchte. Hervorzuheben sind die Bücher »Leib-Seele-Einheit. Ein Kernproblem der neuen Psychologie« (1927), »Psychotherapie. Voraussetzungen, Wesen, Grenzen. Ein Versuch zur Klärung der Grundlagen« (1929) und »Persönlichkeitspsychologie. Entwicklung einer biozentrischen Wirklichkeitslehre vom Menschen« (1932) sowie der von ihm herausgegebene Sammelband »Krisis der Psychoanalyse« (1928).
Prinzhorn führte das »unstete Leben eines ewig Suchenden« (Wolfgang Geinitz), sowohl im Privaten als auch auf beruflicher Ebene. Nachdem er bereits 1921 von Heidelberg fort gegangen war, versuchte er sich glücklos an Sanatorien in Zürich, Dresden und Wiesbaden, bis er sich 1925 mit einer psychotherapeutischen Praxis in Frankfurt am Main niederließ. Aber auch diese war nicht sehr erfolgreich, zumal sich Prinzhorn eher als Person der Öffentlichkeit begriff. Als gefragter Vortragender im In- und Ausland machte er sich vergebliche Hoffnungen auf eine Universitätsstelle. Nach Enttäuschungen beruflicher Perspektiven und drei gescheiterten Ehen zog er sich immer mehr zurück und siedelte schließlich zu einer alten Tante nach München über, seinen Lebensunterhalt vornehmlich durch die Einnahmen aus Publikationen und Vorträgen bestreitend. Für die Verwirklichung des ehrgeizigen Plans einer »freinationalen« Kulturzeitschrift wandte sich Prinzhorn im Jahre 1932 u.a. an die Nationalsozialisten, scheiterte damit jedoch auch hier.
Seit den späten 20er Jahren wurde immer deutlicher, dass Prinzhorn viele Ansichte und Ideale jener Strömungen unter den damaligen Intellektuellen Deutschlands teilte, die Armin Mohler als »konservative Revolution« bezeichnet hat. Wie manch andere Zeitgenossen glaubte er irrigerweise, das politische Geschick Deutschlands mitbestimmen und als »Sinnender« auf die »Handelnden« Einfluss nehmen zu können. In der Artikelfolge »Über den Nationalsozialismus«, die in der konservativen Zeitschrift »Der Ring« zwischen 1930 und 1932 erschien, behandelte er verschiedene Aspekte dieser Ideologie und ihrer Umsetzung aus psychologischer Perspektive. Dabei übte er zwar auch Kritik, letztlich entschuldigte er jedoch das Vorgehen der Nazis gegen andere politische und weltanschauliche Gruppierungen sowie viele gesellschaftliche Minderheiten immer wieder mit den besonderen Gegebenheiten der Zeit. Ein letzter Beitrag in dieser Serie, der sich u.a. mit der »Judenfrage« befasste und sich im Tenor nicht wesentlich von den vorangegangenen unterscheidet, wurde nicht mehr gedruckt. Wie sich das Verhältnis Prinzhorns zu den neuen Machthabern gestaltet hätte, lässt sich schwerlich bestimmen. Am »Tag von Potsdam« im März 1933 nahm er, als Freund u.a. des Gastdirigenten Wilhelm Furtwängler, noch teil. Wenige Wochen darauf, am 14. Juni, verstarb er jedoch schon in einem Münchner Krankenhaus infolge eines Typhus, den er sich auf einer Italienreise zugezogen hatte.