Paul Goesch
Sechs blutrote Reifen treiben auf blassem Wasser. Jeder von ihnen umrundet ein Körperteil eines sauber zerstückelten Mannes: Blondschopf und Rumpf, Letzterer allerdings ohne Zeichen von Geschlecht, schwimmen in den beiden größeren Ringen der Mittelachse, flankiert von Armen und Beinen. Doch nicht Rettungsgürtel kreisen um die Körperstücke, sondern rote Ringmauern. Sie bergen die Torsi, die an Skulpturfragmente aus Marmor erinnern, und stellen sie anklagend zur Schau. Es sind niedrige, jeweils von drei geschlossenen Toren markierte Mauern, denen das Fortifikatorische fehlt, auratische Gürtel, die sich um die blassen Körperteile ziehen. Am hohen Horizont steigt rechts eine fahle Sonne auf, vor ihr zwei kleine weibliche Figuren. Die mütterliche Frau im rostroten, kniekurzen Kleid der zwanziger Jahre deutet auf eine weiß gekleidete, offensichtlich jüngere Frau mit offenen Haaren, die wie abwehrend abseits steht.
Paul Goesch nennt das Aquarell "Der zerstückelte Horus". Den aufgerufenen Gott der Ägypter vermischt er indes willentlich oder unwillentlich mit Osiris, dem Vater des Horus. Getötet wurde nämlich nicht Horus mit dem Kopf des Sperbers, siegreicher Licht- und Sonnengott, der später mit Apoll identifiziert wird, sondern sein menschengestaltiger Vater Osiris, der ebenfalls für Licht und Fruchtbarkeit sorgte. Osiris wurde von seinem Bruder Seth ermordet und zerstückelt. Nachdem Isis, Osiris Schwester-Frau, alle Teile zusammengelesen und bestattet hatte, beschenkten die Götter den Gemordeten mit Ewigem Leben; auf Erden wird ihn der vom toten Vater gezeugte Horus vertreten.
Wie ist das rätselhafte Klagebild zu lesen? Expressionisten malen erstochene Frauen, zerschossene Soldaten und Selbstmörder. Gleichwohl ist der zerteilte Jüngling des Architekten und Malers Paul Goesch ungewöhnlich. Wie manche Expressionisten spielte auch Goesch mit Bildmustern aus Mythos und Christentum. Winzige Menschen irren zwischen barocken Architekturelementen, Versatzstücken eines verlorenen Zeitalters, umher. In einem antimodernen, antifunktionalistischen Rahmenwerk wuchert die ornamentale Phantasie des Künstlers. Zwar bleibt das vorliegende Blatt klar geordnet, doch agieren auch hier winzige Figuren, nämlich die beiden offenbar in Schuld und Klage verstrickten Frauen, die an zwei Marien erinnern (ihre reale Spur im Leben des Künstlers kann hier nicht verfolgt werden). Der Gemordete indessen besitzt eine imaginäre Größe: Zusammengesetzt von Frau und Mutter wäre der traurige blauäugige Jüngling riesengroß und im Besitz ewigen Lebens.
Stephanie Poley fügt das Blatt in anthroposophische Deutungsmuster von ”Auflösung” und ”Einheit” (Kat. Kunst und Wahn, Köln 1997, S. 249) und sieht darin das osirishafte Stadium des Menschen ritualisiert, der mit dem Tod auf Erlösung hofft.
Diese Sichtweise möchte ich ergänzen. Übersetzt nicht das Bild vom "zerstückelten Horus" neben persönlichen lebensgeschichtlichen Verletzungen auch schmerzhafte künstlerische Zweifel ins Mythische? Sobald man die Figur des "Horus"/Osiris mit Apollon, dem Gott der Künstler, überblendet, gerät nämlich auch ein katastrophales Künstler-Selbstbild ins Blickfeld. Goesch selbst ist der zerstückelte blonde Jüngling. Größenwünsche und Versagensängste setzen das Messer in Gang. Indem sich der Künstler mit sauberen Schnittstellen als Opfer anrichtet, bringt er die widerstreitenden Empfindungen und seine Sehnsucht nach Erlösung zum Ausdruck.
Bettina Brand-Claussen